Stierzüchterdörfer in der Camargue

Tief in die Welt der Stierzüchterdörfer und die Kultur der Camargue eintauchen, im Land der schwarzen Stiere und weißen Pferde in Languedoc und Provence beiderseits der Rhônes. Die Dörfer zwischen Montpellier, Aigues Mortes und Les-Saintes-Maries de la Mer entführen in ganz eigene Welten.

Von Petra Sparrer

Mauguio, das spanische Dorf – purer Süden

Wer ist hier eigentlich der Star? Das Pferd oder der Stier? Vielleicht beantwortet ein Abstecher nach Mauguio diese Frage. Vor den Toren von Montpellier liegt es an der Binnenlandseite des himmelblau glitzernden Étang d´Or.

Stierskulptur im Stierzüchterdorf Mauguio
Heldendenkmal für einen Sportsfreund auf dem Verkehrskreisel von Mauguio bei Montpellier Foto: PS

In einem kleinen Kreisverkehr neben dem Boule-Verein, wo auf dem Mittelstück einer breiten Platanenallee unermüdlich Pétanque-Kugeln gerollt werden, thront seit 2005 das kalksteinweiße Denkmal eines preisgekrönten Stiers namens Muscadet. Seine Hörner, von Vandalen mehrmals gestohlen, wurden immer wieder nachgebildet und ihm erneut aufgesetzt. Für viele Bewohner der Region ist das Tier ist ein Held.

Der Volksmund nennt Mauguio el pueblo español (»das spanische Dorf«), denn hier im Süden ist Spanien sozusagen um die Ecke, und spanische Worte gehen vielen Leuten leicht über die Lippen. Eingebürgert hat sich die Bezeichnung, seit sich hier nach dem spanischen Bürgerkrieg viele spanische Emigranten niederließen. Die Bauweise der Häuser im Zentrum erinnert auch ein wenig an spanische Dörfer. Und im Café du Midi gegenüber vom Rathaus, auf dem die französische Flagge weht und wie überall die Aufschrift Fraternité, Liberté, Égalité den zentralisierten französischen Staat in Erinnerung ruft, zählen die Ereignisse in der Stierkampfarena ein paar Gassen weiter zu den Lieblingsthemen.

Corsa camarguenca: Was passiert in der Arena?

Moment Mal, Stierkampf? Die Ära von Hemingway und Picasso, der die Arena im nahen Nîmes besuchte, sind doch längst vorbei, sollte man meinen. Und Stierkampf geht gar nicht! Oder doch? In der Camargue gilt es, Vorurteile abzulegen und gewisse Unterschiede zu verstehen. Da hier aber sowohl die Corrida spanischer Herkunft als auch die einheimische bovine Tradition einen hohen Stellenwert haben, gilt es genauer hinzuschauen. Denn was mit Stieren veranstaltet wird, ist in der Camargue sehr oft alles andere als spanisch.

Die Course camarguaise, ein lokales Event für sportliche junge Männer und sehr wendige Camargue-Stiere. Foto: PS
Hinter der Bande bin ich sicher, wissen die Stiere der Corsa carmaguenca. Foto: PS

Bei der spanischen Corrida wird die figura des Torero gefeiert und der Stier getötet (mise à mort), die Course Camarguaise oder auf Provenzalisch und Okzianisch Corsa carmaguenca aber macht den Stier in der Arena zum Helden und nicht selten auch unsterblich, als Dorfdenkmal. Auch tritt nicht ein Torrero gegen den Stier an, sondern es versuchen gleich acht sportliche junge Männer – genannt raseteurs – einem Stier Kokarde, Quaste und Kordeln vom Kopf zu ziehen. Für jede ergatterte Trophäe bieten Sponsoren ein Preisgeld. Ein wenig verwirrend bleibt das Ganze für den Fremden, da Arenen wie in Nîmes, Arles oder auch Mauguio manchmal auch zu Schauplätzen für Corridas werden. Allerdings kommen dabei nie Camargue-Stiere zum Einsatz.

Seit die Bourbonen im 18. Jahrhundert in Spanien regierten, war dort anders als zuvor der Kampf zu Pferd gegen den Stier in der Arena verboten und erstmals mussten Toreros zu Fuß gegen Stiere antreten. Die erste spanische Corrida in Frankreich fand 1853 statt. Bis dato hatte es hier nur die Course Camarguaise gegeben. Sie entstand in der Provence des 15. Jahrhunderts aus der Gewohnheit der Landjugend, mit den Stieren um die Wette zu laufen und sich mit ihnen zu amüsieren.

Hier lebt ein alter Mythos auf: Zur Eröffnung und in den Pausen der Course Camarguaise sorgen die »schönen Arlésiennes« in Tracht für Volksfestflair und lokale Identität. Foto: PS

Course Camarguaise: Teil des Camargue-Mythos

Der Mythos der Camargue, die Sprache der Provence und die lokale Folklore der Votivfeste und Stierspiele mit Musik und Trachten verteidigt die Eigenheiten des Südens innerhalb eines zentralistisch an Paris orientierten Landes. Darum ging es dem Nobelpreisträger für Literatur von 1905 und Gründer der Félibrige-Bewegung Frédéric Mistral gemeinsam mit dem Marquis Folco de Baroncelli-Javon.

Die beiden Männer aus Avignon riefen die Tradition der Trachten der Camargue-Hirten, der Gardians, und der modebewussten schönen Frauen aus Arles, der Arlésiennes, ins Leben. Der Marquis ließ sich als Stierzücher in der Camargue nieder und gründete 1909 den Kulturverein Nacioun Gardians. Er prägte auch die Gardians-Mode – dunkle Hose, buntes Hemd und großer Filzhut (valergue), bis heute Festtrachten und hochwertige Verkaufsschlager in den Modeboutiquen der Region, ein Pendant der bayerischen Lederhosen also.

Von der Winterjacke bis zu den Stiefeln – Mode im Stil der Camargue-Hirten Foto: PS
Hirtenhüte und bunte Hemden füllen die Boutiquen von Les Saintes-Maries. Foto: PS

Seit 1975 sind die Course Camarguaise vom Jugend- und Sportministerium offiziell anerkannt. Die Reglementierung obliegt der Fédération Française de la Course Camarguaise. In der Arena sind nur weiß gekleidete raseteurs zugelassen, die eine École de Raseteurs absolviert haben. Frauen in der Tracht der Arlésienne und Musik aus der Oper Carmen bilden den Auftakt zu einer Course Camarguaise. In den Pausen spielen die Bläser dann Fréderic Mistrals provenzalische Hymne Coupo Santo.

Pause und strategisches Geplauder in der Arena von Marssillargues: drei raseteurs – Sportprofis der Course Camarguaise. Foto: PS
Mit diesem crochet (»Eisenhaken«) lassen sich die Kordeln wirksamer vom Kopf des Stiers ziehen, keine ganz sanfte Methode. Foto: PS

Die Arena neben der Kirche, die Stiere in der Sakristei

Landschafts- und Traditionspflege im Zeichen der kulturellen Identität der Camargue haben sich auch die um die 150 Züchter auf die Fahnen geschrieben. Auf ihren Ländereien wächst die kleine robuste Camargue-Rinderrasse (raço di biou) heran. Die meisten lassen über 100 Tiere in Halbfreiheit über die Weiden ziehen. Ihr Markenzeichen sind die in einem Bogen nach oben gerichteten, langen Hörner. Sie sind kleiner und weniger schwergewichtig als spanische Stiere und machen ihre Züchter als Trophäenträger der Course Camarguaise berühmt. Aber rund 30 Züchter ziehen in der Camargue auch spanische taureaux de combat (»Kampfstiere«) – etwa 6000 Tiere.

Arena von St-Laurent-d´Aigouze mit Blick zur Kirche
Foto: PS

Zu den Dörfern, in denen die Stierzüchtertradition der Camargue gegenwärtig ist, zählen Le Caillar, Marsillargues, St-Laurent-d’Aigouze und das benachbarte Aimargues, wo im 19./20. Jahrhundert die Stierzüchterin Fanfonne Guillierme zu Hause war, eine lokale Legende in einer sonstigen Männerdomäne. Marsillargues am Fluss Vidourle hat in seinem historischen Ortskern eine besonders atmosphärische Arena. Von den Zuschauerrängen schweift der Blick vom Café zur Kirche bis zum Rathaus. Auch in St-Laurent-d’Aigouze steht die Arena direkt neben der Kirche und — einmalig in Europa – dersogenannte toril, in dem die Stiere eingesperrt sind, während sie auf ihren Auftritt in der Arena warten, ist hier die ehemalige Sakristei.


Freitags vormittags zieht der Markt Besucher von auswärts nach Le Cailar. Dass sich hier ansonsten alles um Stiere dreht, macht ein Gemälde des Künstlers François Boisrond am Ortseingang klar. Es zeigt das Runddorf im Bauch eines Stiers! In diesem Stierzüchterdorf wurde der berühmten Stier Le Sanglier (»das Wildschwein«) aufrechtstehend begraben, mit Grabstein und Inschrift. Der Ruf dieses Stiers ist so legendär, dass Kinder der Region seinen Namen in der Schule lernen – und auch den seines Züchters aus den 1920er/30er Jahren – Fernand Granon.

Wie hier in Marsillargues auf die Schilder achten: Es so ruhig aus, aber wenn die Camargue-Hirten die Stiere zwischen ihren Pferden zur Arena treiben und wieder zurück, kann es gefährlich werden. Foto: PS

Abrivado und Bandido durch die Stierzüchterdörfer

So sehr der Stier auch der Held in der Arena ist, auf dem Hin- und Rückweg stehlen ihm die gut trainierten Camargue-Pferde die Show. Dabei galoppieren um die sechs Gardians durch eine Dorfstraße und treiben zwischen ihren Pferden einen oder zwei Stiere. Abrivado heißt der Hinweg zur Arena, bandido der Rückweg zum Züchter oder zum Transportfahrzeug.

Früher gab es in kleinen Dörfern weder Warnungen noch Absperrungen. Heute sind Böllerschüsse und Warnschilder üblich. Bei der Feria in Nîmes stehen die Zuschauer sicher hinter hohen Metallgittern, während Jugendliche versuchen, den Stier bei den Hörnern zu packen. Schon eine halbe Stunde vor einem Event mit galoppierenden Pferden und rennenden Stieren tönt aus Lautsprechern: »Laufende Stiere – Lebensgefahr«, bei größeren Verantaltungen wie der Feria in Nîmes auch auf Deutsch und Englisch.

Rette sich, wer kann, wenn die Stiere durch die Dörfer getrieben werden, wie hier beim bandido, dem Rückweg aus der Arena, in Marsillargues. Foto: PS

Les Saintes-Maries de la Mer – Li Santi Mario de la Mar

Am spektakulärsten präsentieren sich Pferd und Stier mehrmals im Jahr in Les Stes-Maries-de-la-Mer. In dem berühmten Wallfahrtsort der gitans (Zigeuner) steht die Arena direkt am Strand. Um die Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Mer (12. Jh.) und in den Gassen dahinter reihen sich Restaurants und Boutiquen für Gardian-Mode, Reithosen, Stiefel, Hüte.

Jenseits der Zigeunerwallfahrt zu Ehren der Schwarzen Sara am 24./25. Mai durchqueren beim Dorffest am 20. Juni um die 100 Gardians auf Camargue-Pferden das Dorf. Mitte Juli gibt es ein fünftägiges Pferdefest mit Vorführungen, Stierspielen und Flamenco und um den 15. August alle Arten von Stierkämpfen. Am 11. November galoppieren die Gardians aus der ganzen Camargue mit um die 1000 Pferden über den Strand.

Blick vom Badestrand: Hinter der Arena die Wallfahrtskirche der Schwarzen Sarah von Les Saintes-Maries de la Mer. Foto: PS

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